Diözesan­bischof Dr. Alois Schwarz

19.11.2022

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Meine Gedanken zu Europa


Aktuelles

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Meine Gedanken zu Europa

 

Europa in Frieden Freiheit und Demokratie.

Ein Generationenauftrag. Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz

Kurzreferat in der HBFLA Raumberg-Gumpenstein bei den Europatagen 2022.

 

 

Sie haben für Ihre Tagung das Leitthema „Europa in Frieden, Freiheit und Demokratie.

Ein Generationenauftrag“ gewählt und haben diesen heutigen Nachmittag mit den Inhalten von „Ökonomie, Ökologie und Sozialem“ gefüllt.

Wenn ich nun als letzter Redner dieser Tagung meine Gedanken zu Europa sagen darf, dann sollten wir uns zunächst einmal veranschaulichen,

was dieses Europa ausmacht. Es ist ja größer als die Europäische Union.  Mir geht es um die „spirituelle Infrastruktur“ auf unserem Kontinent.

Da haben wir zunächst gehört von der Wirtschaft und der Ökologie aber auch von der öko-sozialen Marktwirtschaft in Europa.

Was wäre eine öko-soziale Marktwirtschaft ohne den Menschen?

 

Immer geht es um den Menschen, heißt es in einem Gedicht von Rose Ausländer (1901-1988)

Immer sind es die Menschen
Du weisst es
Ihr Herz
ist ein kleiner Stern
der die Erde beleuchtet

 

Es waren die Menschen, die Europa zu dem gemacht haben, was es heute ist: ein Kontinent von Philosophen*innen, Dichter*innen, Künstler*innen, Literat*innen, Musiker*innen. Im Buch Kohelet im Kapitel 3 können wir das Programm unseres Kontinents Europa herauslesen. Kohelet ist ein Buch der Bibel, das zur Weisheitsliteratur gehört. Dabei geht es um ein „Handlungswissen“, das die „Kunst der rechten Lebensführung“ entfaltet. „Weise ist, wer diese Kunst beherrscht, wer sie den gegebenen Umständen entsprechend weiter zu entfalten, sie ins Wort fassen und eine nachkommende Generation in sie einzuführen vermag.(Ludger Schwienhorst- Schönberger).

 

Kohelet stellt eine Lebensordnung auf, die sich an Gott orientiert, denn da heißt es:

 

„Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:

eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,“

 

Viele großartige Menschen wurden auf diesem Kontinent geboren und viele von ihnen sind bereits gestorben. Dann erleben wir in diesem Europa auch die Diskussion zur Geburtenregelung und Sterbehilfe. Dazu sollten wir bedenken, dass der Mensch, wenn er in das Leben und Sterben eingreift, sich seiner Zukunft beraubt.

 

 

Weiter heißt es im Buch Kohelet:

 

„eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen“,       

 

Wer könnte das besser verstehen als Sie hier in dieser landwirtschaftlichen Bildungseinrichtung. Sie wissen, dass nicht alles in der Macht des Menschen steht. Ob eine Ernte eingefahren werden kann, ist bei allen Mühen und allem Fleiß immer auch ein Geschenk des Himmels, das durch Dankbarkeit erwidert werden kann.

 

Aktueller könnte es im Buch Kohelet nicht heißen:

 

Es gibt „eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,“

 

Wir denken an die vielen Kriege auf dem Kontinent Europa und vor allem an den Wiederaufbau, der durch unsere fleißigen und mutigen Männer und Frauen gelungen ist und immer wieder gelingen wird. Aus dieser Hoffnung dürfen wir auch leben, wenn die Bilder des schrecklichen Krieges in der Ukraine in uns hochkommen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass auch dieser Krieg einmal zu Ende sein wird und es mutige Menschen braucht, die beim Wiederaufbau helfen werden.     

 

 

Weiter heißt es im Text:

 

„eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;“

 

Auf diesem Kontinent Europa gab es und gibt es immer wieder Armut. Viele Menschen werden geplagt von Existenzängsten, finanziellen und/oder gesundheitlichen Sorgen. Wie viele Tränen da schon geflossen sein mögen und fließen? Es gab und gibt Einsamkeit und Leid, Menschen, die wir verloren haben, die durch Katastrophen oder Krieg gestorben sind. Die Zeit zum Weinen und Klagen wird es immer geben – auch in unserem Leben. Zudem gibt es aber auch Zeiten des Lachens und der Freude, also eine Zeit für den Tanz als eine Möglichkeit diese Freude auszudrücken.  

 

„eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,“

 

Alleine, wenn man die Kriegsberichterstattung aus der und über die Ukraine wahrnimmt, so kann man erkennen, dass einer dem Anderen nichts schuldig bleibt. Hier Tote und dort Tote. Es wird überlegt, wie man den Feind noch besser am Nerv treffen kann. Strategien und Pläne werden geschmiedet und dieses Aufeinander-Steinewerfen scheint kein Ende zu nehmen. Und wir? Wir sammeln sie diese Steine und bringen uns damit in eine immer größer werdende Ohnmacht.

 

Das Steinesammeln in unserem Leben begleitet unseren Alltag immer wieder. Wie oft nehmen wir die schweren Lasten in uns auf, sei es durch das tägliche Wahrnehmen einer Berichterstattung von Gewalt, Tod, Mord, Katastrophen in den Medien, und/oder sei es durch Dinge, die uns eigentlich nichts angehen, die uns nicht zu kümmern haben. Bereitwillig werden wir zu Steinesammler*innen und wir schaffen es oft nicht, diese Steine wieder loszulassen. Wir wissen immer allzu gut, was für den anderen Menschen, das andere Land, das andere Volk besser wäre ohne zu bedenken, dass wir es ja oft für uns selbst nicht wissen.

 

Für Europa stellt sich die Frage: Wer wird zum Richter, zum/r Besserwisser*in über andere und wer ist der/ die Gerichtete?

 

Eine Zeit der Umarmung und Nähe – wie sehr sehnen wird Menschen uns danach? Wie viel Gutes geschieht auf diesem unserem Kontinent in Solidarität mit den Leidenden? Menschen, die aus den Kriegsgebieten kommen, werden aufgenommen – manchmal in die eigenen vier Wände. Den Notleidenden nahekommen und sie im Angesicht der Menschlichkeit zu umarmen, darin sind viele Menschen in Europa großartig. Solidarität mit den Leidenden – auch das ist Europa.

 

Umarmungen zu lösen fällt uns oft sehr schwer. Liebgewonnenes wieder loszulassen, weil wir keinen Menschen, kein Volk, kein Land besitzen können. Es ist uns anvertraut. Wir haben dafür zu sorgen, dass der Frieden und das Wohlergehen gewährleistet sind. Dafür braucht es auch die Fähigkeit des Nachgeben-Könnens und/ oder des Verzichtens.

 

„eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen“,

 

In unserem persönlichen Alltag stellt sich immer auch die Frage: Wonach suchen wir? Was wollen wir in unserem Leben erreichen. Da gibt es unterschiedliche Auffassungen, was gut und weniger gut ist, was bedeutsam und wertvoll, was unbedeutend ist. Dieses Suchen gibt es auch in Europa. Wir suchen nach Lösungen, wie wir die Klimakrise in den Griff bekommen können. Wir überlegen, wie wir die vielen in Europa angekommenen Flüchtlinge betreuen und versorgen können, aber auch jene Menschen, die unseren Ländern an der Armutsgrenze leben oder Armut leiden.

 

Gleichzeitig verlieren wir uns immer wieder in Gesprächen, in Themen, in Dingen, die uns eine Leere bereiten, die uns unproduktiv und/ oder müde werden lassen. Viele Diskussionen dienen nur mehr der Unterhaltung anstelle von produktiver Auseinandersetzung, um daraus etwas Konstruktives entstehen zu lassen.

 

Dabei sind wir oft hineingezogen in den Wechsel zwischen Annehmen und Loslassen, oder, wie es im Buch Kohelet heißt: Behalten und Wegwerfen. Das Gute behalten und das, was zerstört und nicht konstruktiv ist, loszulassen wäre die Aufgabe im Kleinen und im Großen.

 

„eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden“,

 

Pläne und Strategien, die nicht zum Heil führen, dürfen auch zerrissen, verworfen werden. Dazu braucht es den Mut, Fehler einzugestehen. Es braucht die Haltung der Bereitschaft für Veränderung, aber auch die Bereitschaft für einen Neuanfang. Das „Zusammennähen“ wird in unserer Zeit in den Familien und Gemeinschaften, in denen wir leben, aber in der europäischen Gemeinschaft immer bedeutsamer.

 

Hilfreich ist es unterscheiden zu können, wann es besser ist zu schweigen und wann es notwendig ist zu reden. Nicht immer hilft schreien und demonstrieren und manchmal ist es ein wichtiger und bedeutsamer demokratischer Weg. Schweigen kann auch geübt werden. Sich selbst zurücknehmen und andere zu Wort kommen lassen erfordert eine hohe Selbstdisziplin.     

 

„eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.“

             

Liebe kann man – entgegen aller medialen Berichterstattung – hier in Europa in Hülle und Fülle entdecken, sei es in der Natur draußen, in jeder Pflanze, in jedem Tier und in vielen Menschen. Um Lieben zu können, braucht es den Respekt und die Anerkennung des Anders-Denkenden. Anders sein, anders handeln und anders leben ist Ausdruck von Individualität und eigener Persönlichkeit. Es schafft Vielfalt und lässt unsere Welt bunter werden.

 

Hass entsteht, wenn der Anspruch erhoben wird, dass einer oder eine Gruppe das Sagen haben will, um über andere Menschen und deren Anders-Sein herrschen zu können. Hass ist – genauso wie die Liebe – verbunden mit Macht. Die Macht der Liebe kann Herzen erwärmen und Menschlichkeit generieren. Die Macht des Hasses zerstört, denn sie führt zu Krieg und Tod. Wir erleben derzeit in Europa eine Zeit des Krieges und sehnen uns nach der Zeit des Friedens. Diesen Frieden können wir selbst nicht machen. Wir können uns ihn schenken lassen, von dem, der unser Leben – sei es in der Liebe, im Hass, im Krieg und im Frieden – begleitet. Wir dürfen für ihn beten und ihn um den Frieden bitten.

 

Ich möchte nun am Schluss meiner Gedanken mit einem Gebet für Europa abschließen, das Kardinal C. Martini geschrieben hat:

Carlo Maria Kardinal Martini SJ war von 1979 bis 2002 Erzbischof von Mailand. Zuvor war er kurzzeitig Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana.

Kardinal Martini galt zu Lebzeiten als progressiver Vordenker in der römisch-katholischen Kirche.

 

 

 

Gebet für Europa

 

Vater der Menschheit, Herr der Geschichte,

Sieh auf diesen Kontinent,

dem du die Philosophen, die Gesetzgeber

und die Weisen gesandt hast,

Vorläufer des Glaubens an deinen Sohn,

der gestorben und wieder auferstanden ist.

Sieh auf diese Völker,

denen das Evangelium verkündet wurde,

durch Petrus und durch Paulus,

durch die Propheten, durch die Mönche und die Heiligen.

Sieh auf diese Regionen,

getränkt mit dem Blut der Märtyrer,

berührt durch die Stimme der Reformatoren.

Sieh auf diese Völker,

durch vielerlei Bande miteinander verbunden,

und getrennt durch den Hass und den Krieg.

Gib uns, dass wir uns einsetzen

für ein Europa des Geistes,

das nicht nur auf wirtschaftlichen Verträgen gegründet ist,

sondern auch auf menschlichen und ewigen Werten:

Ein Europa, fähig zur Versöhnung,

zwischen Völkern und Kirchen,

bereit um den Fremden aufzunehmen,

respektvoll gegenüber jedweder Würde.

Gib uns, dass wir voll Vertrauen unsere Aufgabe annehmen

Jenes Bündnis zwischen den Völkern zu unterstützen

Und zu fördern,

durch das allen Kontinenten zuteilwerden soll

die Gerechtigkeit und das Brot,

die Freiheit und den Frieden.

AMEN.                                                         

                                                                                     

 

Kardinal Carlo Martini

 

Im Buch Kohelet im Kapitel 3 geht der Text dann so weiter, auf den ich auf Grund der vorgegebenen Redezeit nicht eingehen konnte:

 

„Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?        

Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht.            

Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wieder finden könnte. 

Ich hatte erkannt: Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt,             

wobei zugleich immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennen lernt, das ein Geschenk Gottes ist.       

Jetzt erkannte ich: Alles, was Gott tut, geschieht in Ewigkeit. Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden und Gott hat bewirkt, dass die Menschen ihn fürchten.            

Was auch immer geschehen ist, war schon vorher da, und was geschehen soll, ist schon geschehen und Gott wird das Verjagte wieder suchen.“

(Koh 3,1-15)

 

 

Zum heutigen Thema „Europa in Frieden, Freiheit und Demokratie“  finde ich im Buch des Soziologen Hartmut Rosa eine sehr wertvolle Anregung. Es ist eine leidenschaftliche Ermutigung für die Relevanz von Glauben und Kirche zur Demokratie.

  

Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. München 2022:

 

„Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, entsprechender Räume, entsprechender Traditionen und entsprechender Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen.

 

Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“ (S.74f.). 

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